Eine Reise in die europäische Vergangenheit

- ein Entdecken von verlorenen Schätzen der Musik und von eindrucksvollen Frauen als »role models«

Ich kenne Kyra Steckeweh seit 2004. Gemeinsam haben wir mehrere künstlerische und musikalische Projekte realisiert, auch experimentelle Musik-Videos. Im Herbst 2016 hatten wir die Idee für ihre Konzerte biografische Angaben von Mel Bonis und Lili Boulanger in kurzen Clips zu visualisieren.

Ich schätzte also zwei Drehtage in Paris für zwei kleine, fünfminütige Videos. Doch das war nur der Anfang einer anregenden Entdeckungs- und regelrechten Zeitreise, die Kyra und mich durch ganz Europa führte. Unsere Heldinnen sind in der Öffentlichkeit so unbekannt, es gab so viel zu berichten, dass wir kurze Clips bald nicht angemessen fanden - die Geschichten hinter den Frauen, hinter der Musik, sind einfach zu spannend.

Zunächst dachte ich, dass Fernsehsender daran interessiert sein könnten bei unserem Projekt mitzumachen. Ich war dann doch etwas erstaunt, als ein größerer Sender mir mitteilte, dass derzeit nur Filme über lebende Personen und Künstler*innen unterstützt und „an Filmen über Tote kein Interesse“ bestehen würde. Nun ja, dabei ist 2018 sogar als europäisches Kulturerbejahr ausgerufen, wie soll das ohne „Tote“ gehen? Schade über soviel Ignoranz bei bestimmten Medien.

Das "Inner-Team": (v.l.n.r.) Tim van Beveren, Kyra Steckeweh und unser Cutter, Kamil Goerlich.

Es zeichnete sich also schon früh ab, dass Kyra und ich bei der Durchführung dieses Projekts völlig auf uns allein gestellt wären. Der Film wurde dann auch rein privat finanziert - low budget macht kreativ. Viele Beteiligte verzichteten dankenswerterweise auf sonst übliche Honorare. Über ein erfolgreiches Crowdfunding auf startnext.com konnten im Januar 2018 immerhin knapp 10.000 Euro akquiriert werden.

In diesem Zusammenhang muss unbedingt die Firma ARTHAUS MUSIK GmbH aus Halle an der Saale erwähnt werden. Über ihr Tochterunternehmen DIGIM hat uns ARTHAUS intensiv bei der Fertigstellung des Films unterstützt. 

Durch die Beschäftigung mit den Biografien dieser vier höchst unterschiedlichen Frauen wurde mir schlagartig klar, wie sehr doch bis heute unsere Wahrnehmung immer noch patriarchalisch geprägt ist. Trotz meines großen Interesses an klassischer Musik kannte ich eigentlich nur Clara Schumann als Komponistin. Andererseits konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, dass nur Männer klassische Musik geschrieben haben sollten.

Felix Mendelssohn- Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel im Leipziger Mendelssohn-Haus

Sängerinnen sind in der Klassik anerkannt, einige sind sogar ganz große Stars, aber Frauen, die klassische Musik schreiben, für ganze Orchester, oder auch Kammermusik, das scheint etwas ganz anderes. In der modernen Musik, in Pop, Rock und allen experimentellen Formen ist das ja seit Jahrzehnten ganz anders und – im Gegensatz zur Klassik – auch völlig akzeptiert.

Stellen Sie sich vor, Madonna müsste vor einer neuen CD erst ihren Bruder oder ihren Ex-Mann um Erlaubnis bitten, oder um finanzielle Hilfe, damit eine Plattenfirma die CD druckt. Wie erleichtert muss Fanny Hensel gewesen sein, als ihr Bruder sich endlich dazu herablies ihr die Publikation ihrer Kompositionen zu erlauben?

Der Konzertdirektor des Leipziger Gewandhauses, Tobias Niederschlag, stellte sich als einziger der Angefragten unseren

Interessant war in diesem Zusammenhang auch zu beobachten, wie plötzlich alle angefragten Programm-Macher*innen der großen deutschen Konzerthäuser „abtauchten“, wenn wir um ein Interview für unseren Film baten. Einzig der verantwortliche Programmdirektor des Leipziger Gewandhauses, Tobias Niederschlag, hatte das Selbstbewusstsein, fast möchte ich sagen den Mut, sich der Kamera und unseren Fragen zu stellen.

Manchmal waren wir aber auch verblüfft über sich unerwartet öffnende Türen. Als wir zum Beispiel die Büste von Mel Bonis, die außerhalb eines kleinen Museums in der Nähe von Paris steht, aufnehmen wollten, wurden wir spontan eingeladen doch auch in ihrem Landhaus bei Sarcelles zu drehen.

Verlorenen Schätze

Auf dem Dachbodenbei Christine Géliot kommen in einer Kiste die Autographen von Mel Bonis zum Vorschein.

Ein paar Wochen später besuchten wir Christine Géliot, die Urenkelin von Mel Bonis, und diese zeigte uns auf ihrem Dachboden eine riesige Metallkiste. Zum Vorschein kamen vor unseren staunenden Augen die Original-Handschriften ihrer Urgrossmutter - was für ein Schatz! Natürlich wollten wir auch das Autograph der Sonate d-Moll von Emilie Mayer in der Berliner Staatsbibliothek drehen, denn dort wird ihr Nachlass aufbewahrt. Doch alle unsere Anfragen wurden zunächst resolut abgewimmelt, wir waren irritiert. Erst als sich die Direktorin, Barbara Schneider-Kempf, persönlich einschaltete, durfte Kyra das Autograph sogar im Direktionsbüro einsehen und ich dieses Szene mit der Kamera festhalten.

Pech hatten wir leider in Rom. Die französische Akademie in der Villa Medici reagierte zunächst überhaupt nicht auf unsere Anfragen und schloss dann, auf Nachfrage, offizielle Dreharbeiten und ein Interview kategorisch aus. Wie gesagt, das ist die Stätte des größten Triumphes von Lili Boulanger, bevor sie mit nur 24 Jahren starb. Ganz anders bei der Deutschen Akademie in der Villa Massimo. Nach kurzer Absprache wurden wir sehr freundlich empfangen und durften dort sogar zwei Tage arbeiten.

Kyra Steckeweh in der Berliner Staatsbibliothek mit den Original-Autographen von Emilie Mayer und Fanny Hensel.

Die Recherchen zu Emilie Mayer gerieten besonders spannend. Wir wussten, dass sie im April 1883 auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Berlin-Kreuzberg beigesetzt worden war. Ihr Grab galt aber als verschollen. Unseren historischen Experten Dr. Jörg Kuhn ließ dies auch nicht los, und so ist es ihm und seiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass wir das Grab dann

Kyra Steckeweh und unserem Historiker, Dr. Jörg Kuhn, ist es im Zuge der Dreharbeiten gelungen das Grab von Emilie Mayer wiederzufinden.

 während der Dreharbeiten tatsächlich wiedergefunden haben. Wir denken, dass dieser bedeutenden Bürgerin unserer Stadt ein Gedenkstein oder eine Stele gesetzt werden solle - ein neues Projekt, das wir dem Berliner Senat vorschlagen werden.

In Friedland, Emilie Mayers Heimatstadt, war der Umgang mit dieser besonderen Tochter eher enttäuschend. Das lokale Heimatmuseum hat die wenigen Exponate, die es von ihr gab, vor längerer Zeit aus der Ausstellung genommen. Es ist nichts mehr präsent. Schade, wenn dort niemand Interesse an einer historischen Aufarbeitung haben sollte - bei so einer ungewöhnlichen Frau! Ins Berliner Adressbuch ließ sie sich mit der Berufsbezeichnung „Komponistin“ eintragen, als ledige und selbständige Frau im 19. Jahrhundert, was für ein „role model“!

Die Arbeit an den „Komponistinnen“ und die intensive Beschäftigung mit diesen eindrucksvollen Frauen hat mir einen neuen Blick auf Geschlechter-Gerechtigkeit in der Kunst, auf die aktuelle Gender-Diskussion und die auch heute noch überall manifestierten Auswirkungen eröffnet. Kann es wirklich sein, dass gedankliche Strukturen aus vergangenen Jahrhunderten, die wir doch eigentlich als obsolet erkannt haben, so fest in unserer Kultur und unseren Köpfen festsitzen, dass es so schwer ist sie zu lösen und aufzubrechen?

In der sozialwissenschaftlichen Forschung definiert der englische Begriff „gender“ die gesellschaftlich und kulturell geprägten Rollen, Rechte, Pflichten, Interessen und Ressourcen von Männern und Frauen, auf deren Wahrnehmung er abzielt. Ein vergleichbarer Begriff ist mir in der deutschen Sprache nicht bekannt. Im Moment streiten Experten, Politiker und sowieso alle darüber, wie wir korrekt beide (oder wie in Skandinavien alle drei Geschlechter) abbilden, ob mit Sternchen, mit Unterstrich, mit Binnenmajuskel oder mit Doppelungen und Deklinations- Anhängseln. Es ist noch immer „das“ Mädchen, aber „der“ Junge. Beruhigend, dass es inzwischen schon die Begriffe „Komponistinnen“, „Dirigentinnen und „Pianistinnen“ in unseren Sprachgebrauch geschafft haben, und dass es Frauen gibt, die solche Berufe ausüben - unabhängig von ihren Brüdern, Vätern und Ehemännern und deren Genehmigung.

Jedenfalls ist mir klar, dass dieser Film über Komponistinnen nur der Anfang einer Reihe von Dokumentationen über komponierende Frauen sein kann. Kyra und ich arbeiten bereits an weiteren Folgen, an einer Serie, an einzelnen Porträts. Diese könnten dann auch für den Musikunterricht an Schulen und Bildungsinstitutionen genutzt werden. Wir denken dabei nicht nur an historische Aufklärungsarbeit, sondern auch an Inspiration und Ermutigung für die kommende Generation, auch klassische Musik zu hören, zu schätzen und warum nicht auch selbst zu machen.

Wir sind zuversichtlich, dass wir hier gemeinsam in den kommenden Jahren noch ganz viele weitere Lücken schließen und tolle Frauen kennenlernen werden.

In diesem Sinne, sehen und hören Sie selbst!

Tim van Beveren

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